Das Naturhistorische Museum räumt mit seinem Afrika-Bild auf

Der Grosswildjäger Bernard von Wattenwyl soll nicht mehr als Held dargestellt werden und die präparierten Tiere werden neu beschriftet: So will das Naturhistorische Museum sein koloniales Erbe transparent machen.

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Wie gelangten die präparierten Tiere in die Schaukästen? Dieser Aspekt wird im Naturhistorischen Museum in Zukunft mehr thematisiert. (Bild: Jana Leu)

Jedes Berner Kind mag die Tiere im Naturhistorischen Museum (NMBE). Hier sind innert Minuten weite Reisen möglich. Vor allem im Parterre des Museums, wo sich links und rechts des Entrees Dioramen mit Löwen, Antilopen und Breitmaulnashörnern aneinanderreihen. Wann sonst sind afrikanische Tiere – wenn auch nur als lebensechte Präparate – schon von so nah zu sehen?

Deswegen will das Museum an den in die Jahre gekommenen Dioramen festhalten, wenn es momentan die Dauerausstellung erneuert. Neu werden die Objekte mit Beschriftungen und illustrierenden Fotos so eingeordnet, dass man erfährt, wann und unter welchen Bedingungen sie nach Bern kamen. Zudem soll die Rolle des über viele Jahre als Held dargestellten Bernburgers Bernard von Wattenwyl relativiert werden. Bis Ende Juni will das Museum die Überarbeitung abschliessen, wie die «Hauptstadt» in Erfahrung bringen konnte. Die Ausstellung bleibt dabei immer geöffnet.

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Die Afrika-Dioramen sind Schaukästen mit präparierten Tieren und gemalten Hintergründen. (Bild: Jana Leu)

Das NMBE war 1936 eines der ersten Museen der Schweiz, die auf die damals neuartige Ausstellungsform Diorama setzten. Dabei handelt es sich um Schaukästen mit präparierten Tieren und gemalten Hintergründen, die einer afrikanischen Landschaft nachempfunden sind. Über 100 Tiere hatten Bernard von Wattenwyl und seine Tochter Vivienne von zwei 1923 und 1924 in Ostafrika durchgeführten Grosswildjagden mitgebracht. Die Dioramen waren eine absolute Sensation.

Doch während im Laufe der Zeit viele andere Museen von dieser Darstellungsform wieder abkamen, blieb Bern dabei. Vermutlich gerade weil es den Ausstieg verpasst hat, verfügt das Museum heute über die älteste und grösste Dioramenschau der Schweiz. «Sie ist beim Publikum sehr beliebt», sagt Stefan Hertwig.

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Stefan Hertwig und Dora Strahm sind für die Überarbeitung der Dauerausstellung zuständig. (Bild: Jana Leu)

Er ist wissenschaftlicher Kurator und Leiter Abteilung Wirbeltiere des NMBE. Gemeinsam mit Ausstellungskuratorin Dora Strahm ist er für die sanfte Überarbeitung der historischen Dioramen zuständig. Dabei soll vor allem auch die Darstellung des afrikanischen Kontinents durch das NMBE korrigiert werden.

Damit stellt sich das Museum seiner kolonialen Vergangenheit. Sie besteht insbesondere darin, dass Schweizer Jagdgesellschaften im damals von Kolonialmächten beherrschten Afrika organisierte Grosswildjagden unternahmen und die erlegten Tiere als Trophäen mit nach Hause nahmen. «Andere Leichen im Keller sind bei uns keine zu finden», sagt Stefan Hertwig. Er spricht damit Fälle in Österreich und Deutschland an, wo naturhistorische Museen kürzlich Schädel aus Grabraub an hawaiianische Indigene zurückgaben. «Unsere Sammlung umfasst nur zoologische, geologische und paläontologische Teile, deren Herkunft gut erforscht ist», sagt er. Etwa die Hälfte der Afrika-Ausstellung stamme vom Vater-Tochter-Gespann von Wattenwyl, das bis vor Kurzem auch im Museum sehr präsent war.

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Dora Strahm zeigt Skizzen, wie der Eingangsbereich neu gestaltet werden soll. (Bild: Jana Leu)

Wer im Entree des NMBE stand und überlegte, ob es nach unten oder oben, geradeaus, links oder rechts gehen soll, wurde bisher vom grossflächigen Bild von Bernard von Wattenwyl begrüsst, der stolz mit zwei erlegten Antilopen posierte. Doch kürzlich ist das Bild des Grosswildjägers hinter einer Holzverschalung verschwunden. «Wir wollten ihn nicht mehr so heroisieren», sagt Dora Strahm. An seiner Stelle wird die Herkunft der historischen Dioramen «Tiere Afrikas» neu inszeniert, so dass man versteht, aus welchem kolonialen Kontext das Sammlungsgut stammt. Etwa indem Werkzeuge der Präparator*innen ausgestellt werden oder Fotos, die zeigen, wie Einheimische in Afrika die Jagdgesellschaft beim Häuten unterstützten.

«Wir haben dabei unter anderem mit dem ugandischen Experten Solomon Sebuliba gearbeitet», sagt Dora Strahm. Mit ihm habe man ausgewählt, welche Fotos der damaligen Jagdgesellschaft überhaupt gezeigt werden sollen und können. Er habe einen ganz anderen Blick auf die historischen Fotografien gehabt. «Bilder, die wir nie ausgestellt hätten, fand er unproblematisch», sagt die Kuratorin. Es sei ihm vielmehr darum gegangen, authentische Szenen aus dem Alltag der Grosswildjagd in Kenia um 1923/24 darzustellen. Der Kompromiss: «Wir werden keine Bilder mehr zeigen, auf denen Einheimische in zweifelhaften Posen zu sehen sind.» Während langer Zeit seien dokumentarische Fotografien im NMBE nur als Deko-Elemente eingesetzt worden. «Für die neuen Texte haben wir in Zusammenarbeit mit externen Expertinnen Wortwahl und historische Fotos sorgfältig überprüft und jedes Foto mehrmals analysiert», sagt die Kuratorin, «wir gingen wohl noch nie so sorgfältig vor».

Dioramen als Zeitkapseln

Seit mehreren Monaten hat sich Dora Strahm intensiv mit der Auffrischung der historischen Dioramen auseinandergesetzt. «Mittlerweile erstaunt es mich, dass wir als Museum nicht schon viel früher auf die Thematik angesprochen worden sind.» Neben der neu thematisierten Herkunft der Tiere soll die Beschriftung auch auf falsch Dargestelltes in Dioramen hinweisen. «Oft sind zum Beispiel Vater-Mutter-Kind-Konstellationen zu sehen, die es so in der Natur gar nicht gibt», sagt Strahm. Ausserdem werden auf Hinweis des selbstständigen Museumsberaters und Biologen Solomon Sebulila die Tiernamen in den Dioramen in afrikanischen Sprachen ergänzt.

Dora Strahm sieht durchaus Vorteile in der aus der Zeit gefallenen Darstellungsform von Dioramen. «Sie funktionieren wie Zeitkapseln, die einen idealisierten Lebensraum darstellen, den es so nicht mehr gibt.» So sei es heute in Afrika auch gang und gäbe, dass Giraffen sich unter einer Autobahnbrücke durchbücken müssten. «Wir werden neu auch Bilder zeigen, in denen Wildtiere in gewissen afrikanischen Ländern vor urbaner Kulisse zu sehen sein werden. Damit wollen wir der in der europäischen-westlichen Wahrnehmung immer noch gängigen Illusion eines unberührten, menschenleeren Kontinents, dem ‹Safaritraum› entgegenwirken.»

Diese veränderten Lebensräume greift das NMBE auch im «Heimatmuseum» auf, in dem Dioramen zu einheimischen Tieren ausgestellt sind. Im Zuge der sanften Renovation werden dort digitale Hintergründe auf alte Dioramen projiziert. So soll per Einblendung sichtbar werden, wie aus einer idyllischen Landschaft ein Gemüseacker im Seeland entsteht.

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Die Videoinstallation «The Substitute» wird neu in der Afrika-Ausstellung gezeigt werden. (Bild: Jana Leu)

Auch die Afrika-Dioramen werden digital ergänzt. In ihrer Videoinstallation «The Substitute» erweckt die britisch-südafrikanische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg das letzte männliche Nördliche Breitmaulnashorn zum Leben. Momentan ist das Werk in der Sonderausstellung «Weltuntergang – Ende ohne Ende» zu sehen, danach soll es dauerhaft in der Afrika-Ausstellung Platz finden.

Ein Diorama, neu interpretiert. Und erst noch in Bewegtbild. Das werden Kinder und selbst kritische Erwachsene mögen.

Die sanfte Renovation der Dioramen findet noch bis Ende Juni statt, die Ausstellung bleibt in dieser Zeit geöffnet.

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Diskussion

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Madleina Zilaba
24. Juni 2022 um 20:44

Danke für den Artikel, das macht Lust wieder einmal ins Museum zu gehen! Bei Dokumentarfilmen müssen wir laufend die "Entdecker"-Namen korrigieren. Unseren Kindern fällt auf dass doch in ihrer zweiten Heimat auch Leute wohn(t)en.