Ein Weihnachtsmarkt ist kein Grundrecht
Die Stadt Bern verbietet grössere Kundgebungen von Mitte November bis Weihnachten. Das ist ein Problem. Ein Kommentar.
Menschen demonstrieren selten, wenn alles gut ist. Sie gehen auf die Strasse, wenn sie etwas erschüttert. Ihnen etwas gegen den Strich geht. Sie wütend macht. Eben dann, wenn die Welt in ihren Augen gerade nicht in Ordnung ist.
Und aktuell ist die Welt nicht in Ordnung. Nicht für Millionen von Israelis, Jüd*innen, Palästinenser*innen, auch nicht für ihre unzähligen Angehörigen und Verbündeten, die auf der ganzen Welt verstreut leben. Und auch nicht für alle anderen, die das furchtbare Morden der Hamas-Terroristen und die heftigen Militärschläge Israels mit den zivilen Opfern aus der Ferne mitverfolgen, sich hilflos, wütend, solidarisch oder überfordert fühlen.
In solchen Fällen friedlich zu demonstrieren, ist unser Recht.
Gerade jetzt ist das für zahlreiche Menschen überall auf der Welt ein grosses Bedürfnis. Auch in der Schweiz, und ganz besonders im politischen Machtzentrum Bern.
So geschehen in den vergangenen Wochen, wo zwei grössere propalästinensische Kundgebungen auf dem Bundesplatz stattfanden. Die Demonstrationen waren umstritten, die Stimmung zum Teil angespannt, das Polizeiaufgebot hoch. Es wurden einzelne Transparente und Fahnen mit antisemitischen oder islamistischen Inhalten konfisziert. Auch zwei – viel kleinere – jüdische Mahnwachen wurden in Bern durchgeführt.
Rechtlich gesehen dürfen Demos provozieren
Natürlich gibt es Grenzen der Versammlungsfreiheit. Aber, das zeigt etwa die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Die Grenzen sind nicht so bald erreicht. Beide Gerichte rügten zum Beispiel Schweizer Kantone für verhängte Demonstrationsverbote während der Corona-Pandemie.
Das Recht auf Versammlungsfreiheit darf nicht ohne weiteres eingeschränkt werden. Ein generelles Demonstrationsverbot ist laut Bundesgericht in der Regel verfassungswidrig. Behörden müssen Kundgebungen im Einzelfall prüfen. Und sie bewilligen, wenn sich Sicherheitsrisiken mit Auflagen in den Griff bekommen lassen. Auch wenn das für die Polizei aufwändig ist.
Und: Selbst unwahre, provozierende und schockierende Meinungen sind grundrechtlich geschützt.
Trotzdem haben antisemitische, nationalsozialistische, rassistische, islamistische oder zu Gewalt aufrufende Inhalte an Demos nichts zu suchen. Und auch die Grundrechte Dritter, etwa der jüdischen Bevölkerung, sind zu wahren. Es ist richtig, dass Behörden bei solchen Äusserungen und bei Gefahren eingreifen.
Auch die Veranstalter*innen von Demonstrationen tragen hier eine Verantwortung. Gerade, wenn die Stimmung derart angespannt ist wie jetzt, ist es ihre Pflicht, Meinungen umsichtig und mit Rücksicht auf Mitmenschen kundzutun. Transparente mit Holocaust-Vergleichen hochzuhalten oder zu tolerieren, missachtet das klarerweise. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darf kein Freipass für Hetze sein. Aber Veranstalter*innen müssen die Chance haben, ihre Verantwortung auch wahrzunehmen.
Verbot bis Weihnachten
Am Mittwoch sprach sich der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller gegenüber Bund/BZ dafür aus, in der Stadt Bern von weiteren Demos abzusehen – obwohl es gar nicht in seiner Kompetenz liegt, darüber zu entscheiden. Müller sagte im Interview: «Die Leute haben genug von Demonstrationen.»
Einige Stunden später kommunizierte die Stadt Bern den Entscheid des Gemeinderates: Vom 17. November bis zum 24. Dezember werden in der Berner Innenstadt keine Grosskundgebungen oder Umzüge bewilligt.
Der städtische Sicherheitsdirektor Reto Nause präzisiert auf Anfrage der «Hauptstadt», dass in der Innenstadt darunter alles fällt, was eine Mahnwache von mehr als 10 bis 20 Personen übersteigt.
Hauptgrund ist laut Gemeinderat, dass die Stadt Bern in den nächsten Wochen stark ausgelastet sei: Ein Staatsbesuch, ein Fussballmatch, der Zibelemärit, die Weihnachtsmärkte.
Angesprochen auf die Pro-Palästina-Demonstrationen der vergangenen Wochen sagt Nause: «Sie sind unter dem Strich friedlich verlaufen. Aber die Stimmung war aufgeheizt.» Es sei ein hohes Polizeiaufgebot nötig gewesen. Nause sagt auch: «Es ist jetzt an der Zeit, die Gemüter zu beruhigen. Es braucht jetzt eine Denkpause. Im Januar können wir wieder diskutieren.»
Diese Aussage mag eine persönliche Meinung ausdrücken. Ebenso mag es Philippe Müller scheinen, die Leute hätten jetzt genug von Demonstrationen. Aber beides kann rechtlich kein Demonstrationsverbot begründen.
Es ist im Gegenteil gerade Aufgabe des Staates, auch unliebsame, heikle Demonstrationen zu schützen. Er muss die Gefahr, die von Demonstrationen ausgeht, im Einzelfall prüfen. Aber es ist nicht seine Aufgabe zu beurteilen, wann der Moment ist, unsere Gemüter zu beruhigen und in Weihnachtsstimmung zu verfallen.
Verhältnismässigkeit und Glühwein
Man darf Demonstrationen, propalästinensische oder andere, kritisieren und verurteilen. Man darf auch lieber unbehelligt Glühwein trinken wollen.
Aber die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht. Sie ist in der Bundesverfassung garantiert. Sie untersagt es dem Staat, willkürlich Demonstrationen zu verbieten. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.
Ein ungestörter Weihnachtsmarkt ist kein Grundrecht. Er rechtfertigt kein generelles Kundgebungsverbot. Ob den Menschen Besinnlichkeit besser bekäme als ein wütender Demozug, ist völlig egal: Man darf ihnen deswegen nicht das gewaltfreie Demonstrieren verbieten. Gerade jetzt.