Ein Weihnachtsmarkt ist kein Grundrecht

Die Stadt Bern verbietet grössere Kundgebungen von Mitte November bis Weihnachten. Das ist ein Problem. Ein Kommentar.

Impressionen von der Palaestina Kundgebung, fotografiert am Samstag, 4. November 2023 in Bern. (liveit.ch / Manuel Lopez)
Der Gemeinderat verbietet grössere Kundgebungen in der Berner Innenstadt, wie die propalästina-Demo von letztem Samstag, von Mitte November bis Weihnachten generell. (Bild: Manuel Lopez)

Menschen demonstrieren selten, wenn alles gut ist. Sie gehen auf die Strasse, wenn sie etwas erschüttert. Ihnen etwas gegen den Strich geht. Sie wütend macht. Eben dann, wenn die Welt in ihren Augen gerade nicht in Ordnung ist.

Und aktuell ist die Welt nicht in Ordnung. Nicht für Millionen von Israelis, Jüd*innen, Palästinenser*innen, auch nicht für ihre unzähligen Angehörigen und Verbündeten, die auf der ganzen Welt verstreut leben. Und auch nicht für alle anderen, die das furchtbare Morden der Hamas-Terroristen und die heftigen Militärschläge Israels mit den zivilen Opfern aus der Ferne mitverfolgen, sich hilflos, wütend, solidarisch oder überfordert fühlen.

In solchen Fällen friedlich zu demonstrieren, ist unser Recht.

Gerade jetzt ist das für zahlreiche Menschen überall auf der Welt ein grosses Bedürfnis. Auch in der Schweiz, und ganz besonders im politischen Machtzentrum Bern.

So geschehen in den vergangenen Wochen, wo zwei grössere propalästinensische Kundgebungen auf dem Bundesplatz stattfanden. Die Demonstrationen waren umstritten, die Stimmung zum Teil angespannt, das Polizeiaufgebot hoch. Es wurden einzelne Transparente und Fahnen mit antisemitischen oder islamistischen Inhalten konfisziert. Auch zwei – viel kleinere – jüdische Mahnwachen wurden in Bern durchgeführt.

Rechtlich gesehen dürfen Demos provozieren

Natürlich gibt es Grenzen der Versammlungsfreiheit. Aber, das zeigt etwa die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Die Grenzen sind nicht so bald erreicht. Beide Gerichte rügten zum Beispiel Schweizer Kantone für verhängte Demonstrationsverbote während der Corona-Pandemie.

Das Recht auf Versammlungsfreiheit darf nicht ohne weiteres eingeschränkt werden. Ein generelles Demonstrationsverbot ist laut Bundesgericht in der Regel verfassungswidrig. Behörden müssen Kundgebungen im Einzelfall prüfen. Und sie bewilligen, wenn sich Sicherheitsrisiken mit Auflagen in den Griff bekommen lassen. Auch wenn das für die Polizei aufwändig ist.

Und: Selbst unwahre, provozierende und schockierende Meinungen sind grundrechtlich geschützt.

Trotzdem haben antisemitische, nationalsozialistische, rassistische, islamistische oder zu Gewalt aufrufende Inhalte an Demos nichts zu suchen. Und auch die Grundrechte Dritter, etwa der jüdischen Bevölkerung, sind zu wahren. Es ist richtig, dass Behörden bei solchen Äusserungen und bei Gefahren eingreifen. 

Auch die Veranstalter*innen von Demonstrationen tragen hier eine Verantwortung. Gerade, wenn die Stimmung derart angespannt ist wie jetzt, ist es ihre Pflicht, Meinungen umsichtig und mit Rücksicht auf Mitmenschen kundzutun. Transparente mit Holocaust-Vergleichen hochzuhalten oder zu tolerieren, missachtet das klarerweise. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darf kein Freipass für Hetze sein. Aber Veranstalter*innen müssen die Chance haben, ihre Verantwortung auch wahrzunehmen.

Verbot bis Weihnachten

Am Mittwoch sprach sich der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller gegenüber Bund/BZ dafür aus, in der Stadt Bern von weiteren Demos abzusehen – obwohl es gar nicht in seiner Kompetenz liegt, darüber zu entscheiden. Müller sagte im Interview: «Die Leute haben genug von Demonstrationen.»

Einige Stunden später kommunizierte die Stadt Bern den Entscheid des Gemeinderates: Vom 17. November bis zum 24. Dezember werden in der Berner Innenstadt keine Grosskundgebungen oder Umzüge bewilligt.

Der städtische Sicherheitsdirektor Reto Nause präzisiert auf Anfrage der «Hauptstadt», dass in der Innenstadt darunter alles fällt, was eine Mahnwache von mehr als 10 bis 20 Personen übersteigt. 

Hauptgrund ist laut Gemeinderat, dass die Stadt Bern in den nächsten Wochen stark ausgelastet sei: Ein Staatsbesuch, ein Fussballmatch, der Zibelemärit, die Weihnachtsmärkte.

Angesprochen auf die Pro-Palästina-Demonstrationen der vergangenen Wochen sagt Nause: «Sie sind unter dem Strich friedlich verlaufen. Aber die Stimmung war aufgeheizt.» Es sei ein hohes Polizeiaufgebot nötig gewesen. Nause sagt auch: «Es ist jetzt an der Zeit, die Gemüter zu beruhigen. Es braucht jetzt eine Denkpause. Im Januar können wir wieder diskutieren.»

Diese Aussage mag eine persönliche Meinung ausdrücken. Ebenso mag es Philippe Müller scheinen, die Leute hätten jetzt genug von Demonstrationen. Aber beides kann rechtlich kein Demonstrationsverbot begründen.

Es ist im Gegenteil gerade Aufgabe des Staates, auch unliebsame, heikle Demonstrationen zu schützen. Er muss die Gefahr, die von Demonstrationen ausgeht, im Einzelfall prüfen. Aber es ist nicht seine Aufgabe zu beurteilen, wann der Moment ist, unsere Gemüter zu beruhigen und in Weihnachtsstimmung zu verfallen.

Verhältnismässigkeit und Glühwein

Man darf Demonstrationen, propalästinensische oder andere, kritisieren und verurteilen. Man darf auch lieber unbehelligt Glühwein trinken wollen.

Aber die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht. Sie ist in der Bundesverfassung garantiert. Sie untersagt es dem Staat, willkürlich Demonstrationen zu verbieten. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.

Ein ungestörter Weihnachtsmarkt ist kein Grundrecht. Er rechtfertigt kein generelles Kundgebungsverbot. Ob den Menschen Besinnlichkeit besser bekäme als ein wütender Demozug, ist völlig egal: Man darf ihnen deswegen nicht das gewaltfreie Demonstrieren verbieten. Gerade jetzt.

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Diskussion

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Adrian Kim
21. November 2023 um 11:49

Ob nun ein ungestörter Weihnachtsmarkt oder die Versammlungsfreiheit ein Grundrecht ist spielt schlussendlich gar keine Rolle. In der Bundesverfassung stehen noch einige andere Artikel, welche es ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Abgesehen davon gilt auch die Religionsfreiheit und somit hat wohl ein ungestörter Weihnachtsmarkt die gleiche Rechtliche Bedeutung, wie die Versammlungsfreiheit. Man könnte es auch umdrehen und feststellen, dass man sich zum Weihnachtsmarkt im Sinne der Versammlungsfreiheit zusammenfindet. Es ist eine Tatsache, dass in Bern auf dem Bundesplatz zuviel demonstriert wird. Es gibt genügend andere Orte, welche sich besser zur Demonstration eignen. Zusätzlich gibt es auch immer mal wieder das Problem von unbewilligten Demonstrationen. Es ist erstaunlich, dass immer die kleine Minderheit, welche Ihre Agenda beim Schweizer Volk nicht durchbringt, sich so äussert, als werde Sie unterdrückt und auch gerne mal auf undemokratische Mittel zurückgreift.

Hannah Einhaus
12. November 2023 um 10:18

In diese Zeit vom 17.11. bis 24.12. fällt die dreiwöchige Wintersession von National- und Ständerat. Während dieser Sessionen finden m.W. eh keine Demos statt (jedenfalls nicht auf dem Bundesplatz). Es geht hier also mehr um eine Verlängerung vorher und nachher. Bei einer warmen Tasse Tee gebe ich der Autorin recht. Angesichts der kalten Jahreszeit sinkt bei mir persönlich die Lust auf die Strasse zu gehen, ob Demos erlaubt oder verboten sind. Und als Polizeichefin müsste ich wohl auch an die vielen vielen Überstunden denken, die „meine Leute“ inzwischen gemacht haben. Meines Erachtens ein pragmatischer Weg, wenn auch nicht juristisch ideal.

Markus Schafroth
11. November 2023 um 22:56

Das Demo-verbot gilt im Zentrum, Demo-verbot zur Verhinderung von Randalen ist legitim. Stellt euch vor eine Gross-demo am Zybelemärit...würde äusseren und dann die Polizei schreitet ein oder nicht denn es ist ein hiesiges Ereignis... Wer übernimmt da die Verantwortung?

Adrian Hartmann
11. November 2023 um 21:09

Bin ganz Deiner Meinung.

Hannah Einhaus
11. November 2023 um 10:21

Wenn bei propalästinensischen Demos ungestört Parolen wie "From the River to the Sea" gegrölt werden, bedeutet das ein unverhohlener Aufruf zur Vernichtung Israel und auch eine Gefahr für unsere jüdische Minderheit weltweit. Nicht lustig. Zum einen wird an diesen Demos gegen Israel und Juden aufgehetzt, zum anderen wird der Terror der Hamas verharmlost oder gar verherrlicht. Antisemitismus und Terrorismus sind Angriffe auf Rechtsstaat, Demokratie und Sicherheit und fallen keineswegs unter das Recht auf Meinungsfreiheit. Geht es diesen Demonstrierenden wirklich um das schwere Leid der Menschen in Gaza? Ich bezweifle es. Wie klein ist der Anteil der Leute, die wirklich um der Sache willen kommen und folgende zwei Testfragen bejahen würden: Hat Israel ein Existenzrecht? Ist die Hamas eine Terrororganisation? Wenn nur diese Leute dabei sind, und wenn bei der Sorge um die Menschen in Gaza auch die israelischen Geiseln eingeschlossen sind, wäre ich sogar als Jüdin an diesen Demos dabei.

Doris Wolgensinger
10. November 2023 um 15:13

Guter Bericht, differenziert und basierend auf einem Menschenrecht. Danke!

Peter Stämpfli
10. November 2023 um 09:13

Danke für diesen differenzierten Kommentar

Cristina Alberghina
10. November 2023 um 08:00

Das Verbot gilt nur für die Berner Innenstadt und nicht für die Allmend.